michael mayr - movements

Neuroanatomische und neurophysiologische Voraussetzungen zur Funktion der Dynamischen Integration®
Um unseren Körper vor Überdehnungen und abrupten Bewegungen zu schützen, stehen dem Organismus als Schutzvorrichtung zunächst wichtige Eigenfunktionen des Rückenmarks zur Verfügung: die spinalen Reflexe. Als periphere Rezeptoren dienen hier insbesondere die dehnungssensiblen Muskelspindeln sowie die spannungssensiblen Sehnenspindeln. Es handelt sich bei diesen Eigenreflexen um stereotype monosynaptische Reflexe.

Immerhin findet sich hier der erste Schritt zu einem fließenden Bewegungsablauf. Den Innervationsphasen des Agonisten ist dabei ein jeweils entgegengesetztes Verhalten in den Antagonisten zugeordnet. Zwischen Agonisten und Antagonisten einer Reflexzuckung besteht somit eine reziproke Innervation. Aufgrund der Aktivierungs- und Hemmungsvorgänge in den beteiligten Muskelgruppen wird der Ablauf eines Reflexes insgesamt nach Art einer gedämpften Schwingung zeitlich gedehnt und die für die Körperhaltung wesentliche Muskellänge stabilisiert.

Als weitere Sicherung sei auf die Funktion der RENSHAW-Zellen hingewiesen. Diese vielfältigen Bahnungs- und Hemmungsvorgänge bleiben nicht auf die Motoneurone der gereizten Extremität beschränkt, sondern erstrecken sich auch auf die Vorderhornzellen der anderen Körperseite (hier umgekehrt). Der gesamte Reflexablauf kann als "ipsilateraler Beugereflex mit gekreuztem Streckreflex" bezeichnet werden. Diese Organisation der spinalen Reflexaktivität bildet die neurophysiologische Grundlage einer primitiven Lokomotionsbewegung.

Wie weitgehend die Lokomotion tatsächlich reflektorische Rückenmarkfunktion ist, zeigt das Herumlaufen von Hühnern nach Köpfung. Die Funktion des Rückenmarks als Leitungsorgan wird von dem Fernleitwerk vollzogen.

Als Urhirnbahn ist hier zunächst das Kleinhirnseitenstrangsystem zu nennen. Es leitet Erregungen, welche aus Muskeln und Gelenken stammen. Allgemeine Spannungs-, Lage- und Bewegungsempfindungen werden hier dem Kleinhirn zugeführt. Der Tractus spinocerebellaris ant. (Gower) dient dabei mehr der Tonusregulation der Muskeln, der Traktus spinocerebellaris post. (Flechsig) mehr der unbewußten Tiefensensibilität.

Demgegenüber dienen die Hinterstrangbahnen, die in der Medulla und im Thalamus unterbrochen werden und im Gyrus postcentralis enden, der Funktion des Großhirns. Sie vermitteln diesem eine Menge fein differenzierter Empfindungen aus allen Teilen des Organismus, durch welche erst örtlich und zeitlich genau lokalisierte Feststellungen über das Wie? und Wo? eines Reizes möglich sind. Diese epikritische Sensibilität ist eine für den Menschen wichtige Errungenschaft in der Entwicklungsgeschichte und bildet in dieser Hinsicht eine wichtige Ergänzung des Vorderseitenstrangsystems. Durch die erwähnte Differenzierung sind Präzisionsleistungen des Bewegungsapparates erst möglich.

Präzisierend kann man sagen, daß das Kleinhirn im Großen und Ganzen nur eine Reflexzentralstelle darstellt, die allerdings für das Zusammenwirken besonders von Haut- und Tiefensensibilität, Labyrinthimpulsen und motorischer Tätigkeit höchst bedeutungsvoll ist.

Entscheidend aber ist für die bewußt werdende Empfindung, die ja in hohem Maße dem Menschen möglich ist, das Hinterstrangsystem mit den Schaltstellen des Thalamus. Alle Afferenzen laufen von den Rindenfeldern des Gyrus postcentralis zum Thalamus zurück und von dort wieder zu weiten Rindengebieten auch des Parietalhirns und sogar zu Feldern des Frontallappen (Assoziationsfelder). Dieser wechselseitige Kontakt dient der Hirnrinde zur Aufrechterhaltung ihres Wachzustandes und damit auch des Bewußtseins. Die synthetische Auswertung eines komplexen Eindrucks und das Urteil über Stellung und Bewegung der Körperteile erfolgt im Gyrus Parietalis.

Die in der Hirnrinde bewußt werdende Empfindung wird erst durch eine psychische Korrelation, d.h. durch einen Denkvorgang in die Peripherie unseres Körpers zurückverlagert. Erst dadurch wird unser Empfinden zu ihr in Bezug gebracht. Wir leben also innerhalb einer gedachten, subjektiven Wirklichkeit, die wir im Modell unseres Gehirns mit auf die Welt bringen. Seine Gestalt ist beim Menschen änderungs- und erweiterungsfähig und unterscheidet sich dadurch von den viel einfacheren Modellen der Tiere, deren Umwelt als dauernd festgelegter Funktionsplan von Generation zu Generation weitervererbt werden.

Die sensorischen Rindengebiete weisen mit den motorischen zahlreiche Verbindungen auf. Eine stetige Wechselbeziehung, auch mit subcorticalen Zentren, ist die unabdingbare Voraussetzung für eine geordnete Motorik. Vom ganzen sensorischen Primärgebiet aus sind Bewegungen auszulösen. Dazu kommen außerdem noch bestimmte Regionen des Occipital- und Temporallappens mit den Feldern 19 und 22 (Brodmann).

Das motorische Hauptgebiet aber ist die präzentrale Rindenregion. Aus ihr entspringen cortico-fugale Bahnen, die sich nach ihrem Verlauf und durch die Zahl ihrer Synapsen bis zur quergestreiften Muskulatur prinzipiell in zwei Gruppen unterteilen lassen. Die erste Gruppe umfaßt die cortico- bulbären und cortico- spinalen Bahnen, welche ohne Unterbrechung bis zum spinalen Vorderhorngrau verlaufen. Die entscheidenden Efferenzen aus Feld 4 sind in der Pyramidenbahn zusammengefaßt. Die zweite Gruppe unterscheidet sich dadurch von der ersten, daß ihre Bahnen in subcorticalen Zentren unterbrochen werden (Thala -mus, Pallidum, N. ruber, S. nigra, Cerebellum). Sie werden der ersten Gruppe gegenüber als extrapyramidale Bahnen zusammengefaßt.

Die bekannte grobe Unterteilung in bewußte (pyramidale) und unbewußte (extra -pyramidale) Motorik sollte allerdings einer verfeinerten Betrachtungsweise weichen, denn pyramidale und extrapyramidale Rindenfelder wirken stets gemeinsam. Ihre Impulse interferieren und führen damit schon in der Rinde selbst zu einem bestimmten Auswahlergebnis. Dafür sprechen auch die schon angesprochenen zahlreichen intracorticalen Verbindungen.

Eine andere Möglichkeit der Zusammenarbeit mit dem Pyramidensystem ist über die Stammganglien gegeben. Innerhalb des extrapyramidalen Systems lassen sich bahnende und hemmende Anteile unterscheiden. Von ersteren Strukturen zieht ein dauernder Strom von bahnenden Impulsen ins Rückenmark. Da die supraspinalen Erregungen überwiegend an den Gamma-Zellen des motorischen Vorderhorns angreifen, ist eine Dehnung und damit eine Empfindlichkeitssteigerung der Muskelspindelrezeptoren die Folge. Auf diese Weise werden die Reflexerregbarkeit ebenso wie der Muskeltonus und damit die Körperhaltung durch das extrapyramidal-motorische System kontrolliert.

Eine Willkürbewegung, die durch die Pyramidenbahn vermittelt wird, geht auf diese Weise stets mit einer Begleitaktivierung des extrapyramidal-motorischen Systems einher. Durch die Ankoppelung dieses Systems wird ein relativ grober Willkürimpuls in feinerem Maße abgestuft und damit insgesamt ein größerer Bewegungsfluß gewährleistet. Dabei werden besonders die langsam ablaufenden Willkürbewegungen über eine Aktivierung der Gamma-Motoneurone eingeleitet, während rasche Willkürbewegungen vorwiegend durch eine direkte Anregung der Alpha-Motoneurone über die Pyramidenbahn erfolgen.

Vom extrapyramidal-motorischen System gehen stets auch hemmende Erregungen aus. Sie vermindern die Reflxerregbarkeit des Rückenmarks und wirken einer generalisierten Reflexausbreitung entgegen. Die Hemmungsareale umfassen bestimmte Anteile der motorischen Hirnrinde (Suppressorfelder), des Striatums, des Kleinhirns und der bulbären Retikulärformation.

Auf die Bedeutung des Kleinhirns wurde bereits hingewiesen. Zur Unterstützung seiner Tätigkeit verfügt es über eigene Zuleitungen aus dem peripheren Körpergebiet und aus dem N.statoacusticus. Die vom Kleinhirn dem Thalamus, dem N.ruber und dem N.reticularis zuströmenden Impulse können durch Vermittlung des Olivensystems dem Kleinhirn rückläufig, gewissermaßen zur Kontrolle, noch einmal zugeleitet werden. Diese "Rückkoppelung" sichert offenbar eine genaue und rechtzeitige Dosierung der Impulse, die vom motorischen Haubenkern zum Rückenmark laufen.

Durch die geschilderten Zusammenhänge wird ersichtlich, daß das Zentralnervensystem des Menschen dessen labile statische Verhältnisse in idealer Weise zu beherrschen vermag.
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